Ron Mueck und die kognitive Dissonanz

eingetragen in: Kultur, Künstler Porträts, N°12 | 0

 

Wer auch immer mit der Arbeit Ron Muecks konfrontiert ist, wird einen ähnlichen Gefühlswandel erleben: kindliche Neugier, Erschrecken, Ekel, Befremden, Belustigung, aber ganz sicher keine Gleichgültigkeit. Als gelernter Puppenmacher beherrscht Ron Mueck die handwerkliche Kunst der beinahe vollkommenen Illusion. Aus Latex, Kunstharz und echten organischen Materialien – bis hin zu seinem eigenen Haar – formt er lebensgroße, menschennahe Figuren. Wobei der Begriff „lebensgroß“ relativ zu sehen ist, setzt Mueck doch die anatomische Verzerrung zum einen und die maßstabsgerechte Vergrößerung und Verkleinerung zum anderen als bewusstes, gestalterisches Mittel ein. Denn gerade bei der hyperrealen Abbildung balanciert der Künstler auf einem historisch schmalen Grad. So war die Darstellung möglichst real scheinender körperlicher Schönheit in der Renaissance gleichgesetzt mit göttlichen Eigenschaften. Im Mittelalter entstanden entstellte Leidensfiguren in Malerei und Bildhauerei, die als Veranschaulichung der christlichen Lehre dienten. Im Zuge der Aufklärung wurde die Anatomie des Menschen zum Gegenstand empirischer Forschung. Künstler, die sich zu nahe an die Abbildung der „Realität“ heranwagten, liefen von jeher Gefahr, ihre künstlerische Glaubwürdigkeit zu verlieren und zum bloßen Kopierer einer scheinbaren Realität degradiert zu werden.

Irritierend genug ist das Wissen um die tote Skulptur von Mueck, gepaart mit dem mulmigen Gefühl des „Jeden-Moment-lebendig-werden-Könnens“. Faszinierend ist die voyeuristische Lust eines fast schon obszönen Betrachtens noch so kleiner menschlicher Details aus kürzester Entfernung.

Den Schritt zur darstellenden Kunst vollzieht Mueck in dem Moment, in dem die Gefangenheit des menschlichen Geistes in seinem Körper die bloße anatomische Abbildung überwindet. Jede Figur erzählt dem empathischen Ausstellungsbesucher seine eigene, verborgene Geschichte. Die Abstraktion der Anatomie vollzieht Mueck dabei zu genau jenem Grad, der den Figuren ihre Seele einzuhauchen scheint.

Eine Ausstellung, die den Besucher anhaltend beschäftigen wird.

 Tobias Vetter

 

 

Ron Mueck

zu sehen in der

Fondation Cartier

por làrt contemporain

Paris