Schach – ein Spiel für Könige

eingetragen in: Kultur, N°23 | 0

„Das Schachspiel ist wie ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann“, lautet eine indische Weisheit. Wer jemals selbst am Brett saß, der weiß, was damit gemeint ist: Nicht immer gewinnt der vermeintlich Stärkere, häufig obsiegt die bessere Idee über das Material, die weitblickende Strategie gegen den Augenblicksvorteil, das psychologische Geschick über das pure Wissen und die Verwertungstechnik.

 

„Ich werde siegen und die Ehre der Menschheit retten“

Garri Kasparov

Schach hat insofern auch etwas Tröstliches, denn es ist ein Geschehen voller Transformationen und konkurrierender Konzepte, für den menschlichen Maßstab unerschöpflich, für den Geist eine permanente Herausforderung. Schach wird immer als „das königliche Spiel“ apostrophiert, doch es ist weit mehr, als ein geadelter
Zeitvertreib unter anderen, banaleren „Spielen“: Es hat
mathematische Elemente, algebraische wie geometrische; es bietet die erwähnten (tiefen-)psychologischen Aspekte, Wettkampfcharakter, stellt Anforderungen an die physische Kondition und den ethischen Sportsgeist. Schach regt die Phantasie an und kann zur Kunstform geraten, es kann total ungerecht wirken und ist doch letztlich im Ergebnis objektiv.

Weil die Spannung im Schach nicht zuletzt von subjektiven Fehleinschätzungen lebt, gibt es rund ums Brett zahllose Anekdoten: Ein berühmter Spieler hatte die für den Gegner unangenehme, weil ein wenig demütigende Angewohnheit, Figuren beim Ziehen regelrecht in die Felder „hineinzuschrauben“ – bis ein Kontrahent eines Tages auf die Idee kam, eine solche Figur beim Schlagen auch wieder „herauszudrehen“. Zur psychologischen Kriegsführung am Brett gehörte früher auch das Rauchen. Als dies bei offiziellen Turnierpartien irgendwann verboten wurde, „drohte“ ein Meister nur noch damit, indem er eine Zigarre in seinen Fingern hin und her rollte – das Schachprinzip, wonach die Drohung stärker ist, als ihre Ausführung, wirkte also auch neben dem Brett. Es gibt auch im modernen Schach immer wieder Spieler, die ihre fehlende Qualität durch allerlei Mätzchen zu kompensieren suchen: Sie murmeln vor sich hin, treten unterm Tisch wie zufällig Gegners Beine, setzen ihre Figuren nicht zentral auf die Felder (wirksame Methode gegen Zwangsneurotiker) oder sie
belästigen das Gegenüber
verbotener Weise genau dann mit einem Remis-Angebot, wenn der Andere gerade am Zug ist und sich konzentrieren will.

Der britische „Guardian“-Journalist und leidenschaftliche Schachspieler Stephen Moss hat in seinem 2016 erschienenen, höchst unterhaltsamen Buch „The Rookie“ (zu Deutsch etwa: Der Aufsteiger) die verschiedenen Annäherungsformen gegenüber dem Schach durchleuchtet. Moss hat auf der ganzen Welt mit Schach-Romantikern gesprochen und mit Profis, mit selbstlosen Förderern und selbstvergessenen Schach-Süchtigen, die dem Spiel zuliebe bereit waren, ihre bürgerliche Existenz zu opfern. Der Autor untersuchte ganz nebenbei die realen gesellschaftlichen, ökonomischen und sogar politischen Bedingungen, unter denen Schach und vom Schach lebende Individuen gedeihen können.

Der Untertitel seines Buches deutet bereits eine gewisse Vergeblichkeit an, für sich das Phänomen jemals vollständig in den Griff zu bekommen: „An odyssey through chess (and life)“. Moss erzählt in „The Rookie“ u.a. von einer zufälligen Begegnung mit dem britischen Großmeister Nigel Short, von dem er sich „nach einer unter qualvollen Umständen erlittenen Verlustpartie“ offenbar Rat Trost erhofft hatte. Er fragte Short, der einst gegen Garri Kasparov um den WM-Titel gekämpft (und verloren) hatte, ob der nicht irgendeinen Rat hätte, wie man mit dem Schmerz einer solchen Niederlage fertig werden könne – und der Großmeister antwortete: „Versuch´s mit Selbstmord!“

Das große „Drama“, wenn sich zwei Kontrahenten in einem zermürbend langen WM-Match gegenüber sitzen, wie einst bei „Karpow vs. Kasparov“ oder im Herbst/Winter 2016 in New York zwischen dem Norweger Magnus Carlsen und dem Russen Sergey Karjakin, ist eigentlich eher die Ausnahme.

Wenn Weltklassespieler in K.o.-Duellen aufeinandertreffen, besteht leider immer die Gefahr, dass Nicht-Fachmedien die sattsam bekannten Klischees vom linkischen Nerd fortschreiben, der jenseits des Schachbretts vollkommen hilflos und noch dazu schlecht gekleidet ist.
In jüngerer Zeit hat sich das gebessert: Die übrige Welt blickt mit echtem Interesse auf die Schach-Genies – und entdeckt tatsächlich Menschen.

Nicht-Schachspieler schauen häufig mit einer Mischung aus Stirnrunzeln und Bewunderung auf Schachspieler: Was sind das für Typen oder junge Frauen, die in der Lage sind, ohne Ansicht eines Bretts „blind“ zu spielen? Die ihr ganzes Leben dem Schachsport widmen, obwohl es hier noch lange nicht so viel Geld zu verdienen gibt, wie im Fußball, Tennis, Basketball oder Golf? Sind diese seltsamen Charaktere womöglich „geistige Abenteurer“, stets auf der Suche nach einer bestimmten „Wahrheit“? Eine Kreuzung aus Romantiker und Wissenschaftler, ergänzt um alle Tugenden einer Kämpfernatur – vielleicht lassen Schachenthusiasten, ob Profi oder Amateur (Liebhaber) im Wortsinne, sich so am besten beschreiben. Von der Ausübung ihres Sports richtig gut leben können vielleicht zwei Dutzend Supergroßmeister mit einer Spielstärkezahl von 2.700 Punkten und darüber: Unterhalb dieses absoluten Weltklasse-Niveaus lässt es sich zwar als Profi noch immer einigermaßen „leben“, dies aber um den Preis rastloser Einsätze bei Mannschaftswettbewerben in mehreren Ländern oder denen, die in offenen Turnieren (ohne Einladung und irgendeine Kostenerstattung) ihr Heil gegen die Konkurrenz suchen zu müssen. Merke: Wer sich heutzutage für eine Laufbahn als Schachprofi entscheidet und sein Studium für einige Jahre hintenan stellen will, wie der Lübecker Ramus Svane (19), der hat gerade mal noch dieses Zeitfenster zur Verfügung, es in die auskömmliche Weltspitze zu schaffen. Danach ist er schon „zu alt“ und sollte seine Existenz anderweitig sichern.

Die etablierte Weltklasse wird jedenfalls immer jünger: Erfahrene Großmeister wie Viswanathan
Anand, Boris Gelfand, Mickey Adams oder Vladimir Kramnik sind mit plus/ minus 40 allmählich die Ausnahme – die Zukunft gehört eher den Twentysomethings wie Magnus Carlsen, Anish Giri, Wesley So – und auch denen sitzen bereits Talente aus Indien oder China im Nacken, die mit kaum 12, 13 Jahren den Großmeister-Titel erreicht haben. Ist Rasmus Svane mit seinen fast 20 vielleicht jetzt schon zu alt? Er kommt zweifellos aus einer ganz anderen Generation als Stephen Moss: Der wird mit seinen 59 Jahren auch weiterhin um die Welt reisen und sich den Unwägbarkeiten eines Turniers stellen. Er wird mit der eigenen schachlichen Unvollkommenheit hadern und der unerreichbaren Perfektion dennoch unverdrossen nachjagen, genau wie der 40 Jahre jüngere Svane. Moss hat allerdings bereits einen „gestandenen Beruf“. Er kann sich die romantische Seite des Schachs leisten, kann darin baden wie eine Mücke und untergehen wie ein Elefant.

Thomas Lochte