Keine Angst vor Gespenstern

eingetragen in: Kultur, N°22, Psychologie | 0

Wenn Ihnen jemand erzählt, dass er an den Weihnachtsmann glaubt oder an den Klabautermann oder an Kobolde und Elfen, würden Sie wahrscheinlich milde Lächeln, denjenigen etwas bemitleiden und vermutlich nicht mehr ganz für voll nehmen. Schließlich ist es kindisch an etwas zu glauben, nur weil uns Andere davon erzählt haben, ohne dass wir selbst jemals dieses Gespenst gesehen, gehört oder angefasst haben. Umso erstaunlicher ist es allerdings wie viele Menschen den aberwitzigen Irrglauben bei Anderen belächeln, selbst aber gar nicht bemerken an welche Gespenster sie glauben. Vielleicht werden Sie überrascht sein, wenn ich Ihnen die Namen einiger Gespenster nenne, an die Sie womöglich glauben. Das wird daran liegen, dass Ihnen diese Gespenster so vertraut sind, weil Ihnen von klein auf immer wieder von ihnen erzählt wurde. Zum anderen wird es daran liegen, dass so unglaublich viele Menschen diese Gespenster zu kennen scheinen. Unter ihnen Autoritäten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion, die doch wohl wissen werden, wovon sie reden. Aber tun sie das wirklich? Wie findet man heraus, was an all diesen Gespensterexperten dran ist? Man geht selbst auf Gespensterjagd! Man folgt den Aussagen der Experten und verschafft sich selbst einen Überblick. Je genauer man bei den Experten nachfragt, desto mehr scheinen deren Aussagen sich jedoch häufig in die dunklen, nebligen, nur vage verorteten Winkel zurück zu ziehen, in denen Gespenster eben so hausen. Das weiß man ja. Also bleiben Sie hartnäckig. Folgen Sie den angeblichen Sichtungen, nehmen Sie eine Taschenlampe mit – Licht ist wichtig! – und schauen Sie selbst nach. Was sind denn nun einige dieser Gespenster, die immer nur da sind, wenn das Licht aus ist oder Sie gerade nicht hingucken? Nun, da es unzählige gibt, will ich mich hier auf die drei Gespenster beschränken, die unglaublich viele Menschen in ihren Bann ziehen.

Das erste Gespenst hat viele Namen, hört in unseren Breiten aber meist auf den Namen „Gott“. Den teils gruseligen, teils wundervollen Geschichten von „Gott“ sind in der westlichen Welt schon viele auf den Grund gegangen. Nichtsdestotrotz gibt es noch große Gruppen „Gott“-Gläubiger. Sollten Sie zu dieser Gruppe gehören, will ich Ihnen die Geschichten gar nicht ausreden. Aber vielleicht knipsen Sie selbst das Licht mal an und ziehen den „lieben Gott“ am Bart. Die Gefahr ist natürlich, dass Sie wie beim Weihnachtsmann herausfinden, dass sich dahinter nur Ihr Vater verbirgt – oder wer auch immer. Das kann natürlich zu Enttäuschungen führen. Andererseits hat auch nie jemand behauptet, dass Erwachsensein wie im Märchen ist.

Das zweite Gespenst, dass heutzutage in Deutschland noch mehr Leute anbeten bzw. in Ehrfurcht davor leben, nennt sich „die Wirtschaft“ oder manchmal auch „der Markt“. Dieses Gespenst scheint ein wahres Ungeheuer zu sein, denn traut man den üblichen Erzählungen der Märchenonkel („Wirtschaftsweise“, „Marktexperten“, „Topmanager“, „Finanzpolitiker“, etc.), so beherrscht dieses Gespenst Alles und hat immer Recht. Wir alle müssen uns seiner Herrschaft beugen und ihm dienen. Auch in Bezug auf dieses Märchen ist mir nicht daran gelegen, Ihnen alternative Geschichten zu erzählen. Genießen Sie ruhig mit großen Kinderaugen die wohligen Schauer dieser Märchen, wenn es mal wieder „alternativlos“ ist, dass der Steuerzahler (vulgo „die Mittelschicht“) die Zeche der megareichen Finanzmarktzocker zahlt. Ich möchte Sie einladen nicht nur beim Müslikauf 25 kritische Fragen zu stellen, sondern auch wenn Sie mal wieder im Namen des Marktes und der Wirtschaft zur Kasse
gebeten werden. Z. B. wer eigentlich dieser „Markt“ ist, d. h. wo Ihr Geld tatsächlich landet. Entgegen aller physikalischen Gesetze scheint es nämlich immer nach oben zu fallen.

Während die ersten beiden Gespenster sehr von unserer Angst leben, lebt das dritte Gespenst über das ich hier reden will von unserer Hoffnung. Es wird für viele von Ihnen vielleicht am schwersten als Gespenst zu erkennen sein. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Bücher, Lieder, Filme und Fantasien zu diesem Gespenst zu schön sind um wahr zu sein (sic!). Das Gespenst hört auf den Namen „Liebe“ (manchmal auch bei seinem profaneren Namen „Beziehung“ gerufen). Wir scheinen geradezu süchtig nach Geschichten über dieses Gespenst zu sein und tun mitunter die verrücktesten Dinge um diese Geschichten in unserem Leben nach zu spielen. Auch hier gilt: ich sage nicht, dass es keine
Liebe gibt. Aber versuchen Sie doch mal auszusprechen oder gar aufzuschreiben, was Sie mit dem Wort „Liebe“ meinen. Und dann schauen Sie mal, ob da ein Ammenmärchen steht oder etwas, was mit Ihrer Erfahrung der Realität wirklich etwas zu tun hat. Welche Tante, welcher Film, welcher Experte hat Ihnen dieses Märchen erzählt und deckt sich das auch nur ansatzweise mit Ihrer Lebensrealität oder mit dem, was Sie in Ihrem Umfeld beobachten? Auch „schöne“ Gespenster können uns schaden, denn sie lassen unser tatsächliches Leben daneben blass aussehen und machen uns letztendlich unglücklich.

Also knipsen Sie das Licht an, machen Sie die Augen auf, werden Sie erwachsen und folgen Sie Kants Aufforderung: sapere aude! Es ist nicht immer leicht und schön. Aber denken Sie an die ganze Zeit und Energie, die frei wird, wenn Sie sich nicht mehr unnötig mit Gespenstern rumschlagen.

 

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Immanuel Kant

 

Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland.

www.dr-alexander-noll.de