Die goldene Mitte – Die Psychologiekolumne

eingetragen in: Gesundheit, N° 27, Psychologie | 0

„Von den Extremen ist das eine schlimmer als das andere“ Aristoteles

 

Es wird berichtet, dass Buddha ein Leben in strenger Askese führte, als er eines Tages an zwei Musikanten vorbei kam, die mit ihren Sitars am Wegesrand saßen. Einer sagte zum anderen: „Spann die Saiten deiner Sitar nicht zu fest, oder sie werden reißen. Und lass sie nicht zu locker hängen, denn dann kannst du darauf keine Musik machen. Halte dich an den mittleren Weg.“. Diese Worte berührten Buddha zutiefst, so dass er alle seine strengen Glaubenssätze aufgab, nach Balance im Leben strebte und seinen Weg zur Erleuchtung als den Mittleren Pfad bezeichnete.

Wir leben in einer Welt und in einer Zeit der Extreme und Exzesse. Die Extreme zwischen arm und reich spitzen sich zu, extreme religiöse Strömungen haben großen Zulauf, und auch im politischen Bereich scheinen vermehrt extreme Positionen vertreten zu werden, so als gäbe es keinen mittleren Weg z. B. zwischen politisch sanktioniertem Profitstreben großer Immobilienkonzerne ohne Rücksicht auf Verluste einerseits und unrealistischen Forderungen nach Enteignung andererseits.

Diese gesellschaftlichen Phänomene finden sich auch auf individueller Ebene wieder, denn sie sind in der Funktionsweise unseres Denkens begründet. Wenn es um Problemlösungen geht, denkt unser sogenannter Verstand zunächst immer erst einmal in Richtung eines „mehr“. Was wollen wir? Mehr Geld, mehr Freunde, mehr Sex, mehr Ansehen, mehr Macht, mehr Spaß. Und wie glauben wir das zu erreichen? Mehr arbeiten, mehr Sport treiben, mehr auf die Ernährung achten, uns mehr Durchsetzen, mehr Feiern etc. Was häufig aus dem Blick verloren wird ist unsere tatsächliche Lebensqualität, für die im wesentlichen unser körperliches und vor allem psychisches Wohlbefinden entscheidend sind. Weil wir so vertieft sind in Strategien des „mehr“, dass wir regelrecht auf Autopilot durchs Leben gehen, merken wir gar nicht, dass unsere Strategien überhaupt nicht funktionieren. Wir machen stumpf weiter, während wir immer unzufriedener und unglücklicher werden und schließlich sogar psychische und körperliche Krankheiten entwickeln.

Ein gewisses Maß an Sport ist sicherlich gesundheitsförderlich, aber ein Übermaß führt zu einer Überbeanspruchung des Körpers mit Verschleißerscheinungen, Verletzungen und im schlimmsten Falle Invalidität. Einige Sozialkontakte zu haben und zu pflegen ist erwiesenermaßen für das
Wohlbefinden förderlich. Sich jedoch nahezu permanent mit Anderen zu umgeben oder anderweitig zu kommunizieren ist allerdings ebenso erwiesenermaßen nicht förderlich, da die ständige Orientierung an der Umwelt verhindert, dass man soweit zur Ruhe kommt um wahrnehmen zu können, was man selbst eigentlich denkt, fühlt und braucht um dann auch gut für sich sorgen zu können. Zu arbeiten ist für die meisten von uns notwendig, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zudem kann Arbeiten – zumindest potenziell – eine Quelle von Befriedigung und Stolz sein. Exzessives Arbeiten hingegen kann bekanntermaßen zu einem Zustand des Burnout führen. 

Ein Zustand des stabilen körperlichen und psychischen Wohlbefindens ist in der Regel durch ein Gleichgewicht gekennzeichnet. Während Einseitigkeiten und Extreme eher zu einer Instabilität führen, führt eine Ausgewogenheit der Gegensätze zu einer Balance. Im körperlichen Bereich gehört zu den wichtigsten Ausgewogenheiten z. B. diejenige zwischen Bewegung und Ruhe. Im sozialen Bereich ist es wichtig, eine Balance aus alleine verbrachter und in Gesellschaft verbrachter Zeit zu erreichen. Damit verbunden ist auch immer die Frage der Balance zwischen der Durchsetzung eigener Interessen und der Anpassung an Andere. Eine weitere entscheidende Balance für das Wohlbefinden ist diejenige zwischen Disziplin (Arbeit, Pflichten, Anstrengungen) und Lustorientierung (Faulenzen, Schlemmen, nach Lust und Laune handeln). 

Der zentrale Leitsatz in diesem Zusammenhang könnte lauten: „Es ist immer gut, wenn man beides kann.“ Die in diesem Satz zum Ausdruck kommende Flexibilität im Handeln ist vermutlich der beste Gradmesser für psychisches Wohlbefinden, der sich auf einer so allgemeingültigen Ebene finden lässt. Natürlich geht es nicht darum, aus diesem mittleren Weg einen starren Glaubenssatz zu machen, den man zwanghaft verfolgt. Vielmehr geht es darum, Extreme zu vermeiden.

Die schwierige Frage an dieser Stelle lautet dabei: wo stehe ich, wovon mache ich zu viel, wo verhalte ich mich extrem? Ein Hinweis darauf können Rückmeldungen aus Ihrem Umfeld sein, vor allem diejenigen, die Sie immer wieder zu hören bekommen und womöglich zu leichtfertig abtun. Ein weiterer Hinweis darauf, was eine gute Ergänzung Ihres Verhaltensrepertoires sein könnte um ein größeres Gleichgewicht und damit ein besseres Wohlbefinden zu erreichen, ist es, wenn Ihnen etwas schwer fällt. Dem Workaholic wird es z. B. schwer fallen Pausen zu machen und still zu sitzen, dem angepassten Ja-Sager wird es schwer fallen, klar seine Meinung zu vertreten und „Nein“  zu sagen und so weiter.

Was schon Buddha wusste ist, dass das Heil, das wir häufig im „mehr“ der Extreme und Spezialisierungen suchen („High Intensity Training“, „Superfoods“, „Magic Cleaning“ usw.), eher in der Eindämmung von Exzessen und damit dem Ausgleich unserer größten Mängel liegt.

In der Empfehlung des Wegs der Mitte wird Buddhas Weisheit deutlich, denn sie stellt eine Lösung zweiter Ordnung dar. Sie ist im Gegensatz zu den Lösungen erster Ordnung („Mach mehr Sport.“; „Achte mehr auf deine Ernährung.“; „Triff dich mehr mit Leuten.“) allgemeingültig und zeigt die Beschränkungen und Gefahren dieser allzu simplen Lösungen auf, die nie für jeden in jeder Situation sinnvoll sind und bei Übertreibung eher Schaden verursachen.

In diesen Zeiten, in denen wir Extreme attraktiv finden und ihnen huldigen, klingt die Stimme Buddhas wie die ultimative Provokation: „Hab mehr Mut zum Mittelmaß!“

 

Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland. 

www.dr-alexander-noll.de