Alles ist gut – die Psychologiekolumne von Dr. Noll

eingetragen in: Kultur, N°20, Psychologie | 0

Nehmen Sie sich doch mal einen Moment Zeit und fragen Sie sich, ob Sie möglicherweise auf etwas warten. Darauf, dass es besser wird, dass alles in Ordnung ist, Sie glücklich und zufrieden sind oder darauf, dass ihr „eigentliches“, ihr „wahres“ Leben endlich anfängt. Nicht dieses endlose „one damned thing after another“, dass Ihr Leben bis hierhin zu sein scheint. Nur noch diese To-do-Liste abarbeiten, vielleicht sogar nur noch diese eine Sache erledigen, dann wird alles gut und Sie können das Leben genießen.

Was ist gerade dieses eine Ziel in Ihrem Leben, an dem Ihre Hoffnung auf dauerhafte Zufriedenheit hängt?

Wenn Sie nur 5 kg abnehmen würden oder wenn Sie die neue Wohnung perfekt eingerichtet haben oder wenn Sie die nächste Gehaltserhöhung bekommen oder das nächste Geschäft abgeschlossen haben?

Als Kind habe ich mir mal nichts sehnlicher gewünscht als ein ferngesteuertes Auto. Es war alles was ich wollte und ich war sicher, dass ich der glücklichste Mensch der Welt sein würde, wenn ich es nur hätte. Und schließlich kam mein Geburtstag und ich habe es auch bekommen. Und tatsächlich habe ich mich sehr gefreut. Für eine gewisse Zeit. Genauer genommen für eine ziemlich kurze Zeit. Wenn es wirklich das Auto gewesen wäre, dass mich glücklich gemacht hat, so hätte ich fortan doch für immer glücklich sein müssen, zumindest solange ich das Auto besaß. In Wahrheit verlor das Auto jedoch schnell seinen Reiz und seine scheinbare Fähigkeit, mich glücklich zu machen. Stattdessen traten zahllose andere Dinge an seine Stelle, um mir immer wieder Glück und Zufriedenheit zu verheißen.

Am besten erinnern Sie sich kurz an die unzähligen Male in Ihrem Leben, in denen Ihnen Ihr Verstand vorgegaukelt hat: „Nur das noch, dann wird alles gut.“.

So wurde vielleicht aus dem glückverheißenden Spielzeug der Schulabschluss oder das Erwachsensein, dann wäre alles besser. Irgendwie schienen mit jeden weiteren Schritt komischerweise statt mehr Zufriedenheit nur mehr Dinge hinzu zu kommen, die zu besitzen oder zu erreichen seien, um denn dann „von diesem Tage an glücklich zu Leben bis in alle Ewigkeit“. Geschichten, die mit diesem Satz enden, nennt man nicht ohne Grund Märchen. Mit der Realität hat das nämlich nichts zu tun. Möglicherweise sind Sie in einem stillen Moment – den die meisten von uns im Übrigen lieber genau deswegen vermeiden – bereits ins Zweifeln geraten, ob Ihnen da nicht jemand einen üblen Streich spielt. Jemand, der Ihnen wie einem Esel eine schmackhafte Karotte vor die Nase hält.
Sobald Sie aber einen Schritt auf die Karotte zu machen, bewegt diese sich ebenfalls einen Schritt von Ihnen weg. Ich verrate Ihnen etwas: die Karotte, die vor Ihrer Nase baumelt, ist an einem langen Stock an Ihrem Rücken befestigt. Nun, die Karotte am Stock, das ist Ihr Verstand, der Sie immer wieder neuen (oder auch immer denselben alten) Dingen hinterher hetzen lässt, ohne dass Sie sie jemals erreichen können. Das liegt natürlich nicht daran, dass Sie nichts erreichen, sondern daran dass unser „Immer-mehr-Verstand“ immer einen drauf setzen kann. Der Millionär will Milliardär werden, der Weltmeister will nächstes Jahr wieder Weltmeister werden. Egal was Sie alles erreichen und besitzen, der Verstand – an dieser Stelle könnte man auch sagen: die Fantasie – kann das mit Leichtigkeit überbieten. Er ist wahrhaft grenzenlos und braucht sich um die Realität nicht zu scheren. Sie sind nach jahrelangem mühsamen Training einen Marathon unter 4 Stunden gelaufen? Kein Problem für Ihren Verstand, das kann er ohne Aufwand in 3 Sekunden zunichte machen: „Das ist doch keine Leistung. Unter 3 Stunden wäre was.“. Schwupps, da ist die nächste Karotte. Ich glaube, ich kann mir sparen zu erwähnen, wer in dem Spiel der Esel ist.

Mit ein wenig nüchterner Betrachtung Ihrer eigenen Lebenserfahrung werden Sie vermutlich sehen, dass niemals alles gut wird, wenn nur erst dieses oder jenes erreicht ist. Um nicht mehr in diese Falle zu treten, müssen Sie diese Hoffnung begraben. Das ist nicht so schlimm, wie es im ersten Moment vielleicht klingt. Denn es bedeutet, dass Sie aufhören sollen Ihr Glück und Ihre Zufriedenheit auf die Zukunft zu verschieben. Warten Sie nicht noch 10, 20 oder 30 Jahre, bis „alles gut wird“. Es hat bisher nicht funktioniert und es wird auch weiterhin nicht funktionieren. Warten Sie nicht bis auf Ihren letzten Atemzug, bis Sie das Spiel erkennen. Es wäre schade. Das Leben findet jetzt und hier statt. Das ist es. Fertig. Lassen Sie den folgenden Satz vor dem Hintergrund des bisher gesagten mal solange wirken, bis er wirklich Sinn ergibt: „Besser als jetzt wird es nicht.“

Ganz praktisch bedeutet dies: machen Sie eine kleine gedankliche Notiz, wenn Ihr Verstand Ihnen mal wieder eine Karotte vor die Nase hält. Verfolgen Sie ruhig weiter Ziele, aber glauben Sie nicht mehr, dass die Erreichung Sie glücklich machen wird. Versuchen Sie stattdessen, Frieden mit dem aktuellen Moment zu schließen, auch wenn er Unangenehmes enthält. Sie werden verblüfft sein. Akzeptieren Sie diesen Moment, den wir „jetzt“ nennen, einfach weil er nun einmal so ist. Dann können Sie wahrhaft sagen: „Alles ist gut.“

 

Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland. www.dr-alexander-noll.de