Dr. Noll schreibt: Über Verantwortung – nicht mein Bier

eingetragen in: Kultur, N°18, Psychologie | 0

„Mensch sein heißt verantwortlich sein.“

Antoine de Saint-Exupéry

 

Meins oder deins?

Es gibt Fragen, die zunächst einmal recht abstrakt oder rein philosophisch erscheinen. Fragen, für deren Beantwortung wir uns keine Zeit nehmen, da wir mit den Zehntausend Dingen des Alltags beschäftigt sind, die uns alle wichtiger und dringlicher erscheinen. Eine dieser Fragen, durch deren Beantwortung Sie sich unzählige Alltagsnöte ersparen könnten, lautet: wofür bin ich eigentlich verantwortlich?

Ich treffe immer wieder auf Menschen, die massiv von ihrem schlechten Gewissen geplagt werden. Das hinter dem sogenannten „schlechten Gewissen“ stehende Gefühl ist das Schuldgefühl. Viele Menschen fühlen sich beispielsweise schuldig, weil sie die Arbeitsmenge in ihrem Job nicht mehr bewältigen, weil es Familienangehörigen oder Freunden schlecht geht, oder weil es immer wieder zu Konflikten mit bestimmten Menschen kommt.

Zunächst ist es wichtig zu entscheiden, ob das Schuldgefühl berechtigt ist. 

Das Vorhandensein eines Schuldgefühls oder schlechten Gewissens alleine bedeutet nicht automatisch, dass Sie auch tatsächlich eine Schuld auf sich geladen haben. Es bedeutet erst einmal nur, dass Sie glauben, Sie hätten sich etwas zu Schulden kommen lassen. Sofern Sie diese Einschätzung aber noch niemals überprüft haben, sollten Sie eher skeptisch sein und grundsätzlich davon ausgehen, dass es sich um erlernte Überzeugungen handelt. Also überwiegend die Einstellungen ihrer Eltern, Lehrer und anderer wichtiger früher Bezugspersonen widerspiegelt, was Sie zu tun und zu lassen haben. Da unberechtigte Selbstvorwürfe oder Schuldgefühle laut der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation sogar ein Symptom von Depressionen darstellen, ist dies also keineswegs eine rein akademische Frage, sondern für Ihr Wohlbefinden maßgeblich.

 

Wie können Sie nun entscheiden, welches Schuldgefühl auf einer tatsächlichen Schuld beruht und welches nicht? Nun, das bringt uns zurück zur unserer eingangs gestellten Frage nach der Verantwortung. Schuld und Verantwortung sind im Grunde genommen zwei sprachliche Varianten der selben Medaille. Ich bevorzuge es von „Verantwortung“ zu sprechen, da der Begriff positivere Assoziationen weckt als der Begriff „Schuld“ und sich deshalb besser dazu eignet, konstruktiv nach vorne zu schauen und aktiv zu werden. Aber wo beginnt und wo endet denn nun Ihre Verantwortung sinnvollerweise? Dazu möchte ich Ihnen einen Aphorismus an die Hand geben, der mir von einem Psychologieprofessor im Ohr geblieben ist:

„Verantwortung ohne Macht ist Beschiss.“.

Der markige Ausspruch soll Sie daran erinnern, dass Sie nur für etwas verantwortlich sein können, das auch in ihrer Macht liegt. Klingt simpel, scheint aber im Alltag oft in Vergessenheit zu geraten. Lassen Sie mich das an zwei konkreten Beispielen veranschaulichen, von denen Ihnen vielleicht das eine oder andere bekannt vorkommt.

Eine typische Situation in den letzten Jahren ist, dass immer mehr Arbeit von immer weniger Leuten erledigt werden soll. Viele erleben, dass sich die Arbeit stapelt, Überstunden gemacht werden, Urlaub aufgegeben wird und man sich nicht traut zu Hause zu bleiben, wenn man krank ist, da man damit ja dann die Kollegen belaste. Schlechtes Gewissen hin oder her, wie weit geht ihre Verantwortung realistischerweise? Ihre Verantwortung besteht zunächst darin, das zu erfüllen, was Sie vertraglich mit Ihrem Arbeitgeber vereinbart haben. Das heißt in der Regel, für eine bestimmte Bezahlung z. B. 40 Stunden zu arbeiten, bei soundso vielen Tagen Urlaub im Jahr. Ferner kann erwartet werden, dass Sie in einem angemessenen Tempo arbeiten, also nicht bummeln, aber sich eben auch nicht überarbeiten. Ob Sie sich überarbeiten merken Sie daran, ob Sie sich abends und an den Wochenenden ausreichend erholen können. Wenn Sie sich nur von Urlaub zu Urlaub schleppen, ist das kein gutes Zeichen. Haben Sie nun 40 Stunden in angemessenem Tempo gearbeitet und es bleibt regelmäßig immer noch Arbeit liegen, dann ist dies die Verantwortung Ihres Arbeitgebers, denn dann gibt es zu wenig Personal. Die Gegenprobe lautet: haben Sie die Macht, die Arbeit anders zu verteilen oder Personal einzustellen? Falls nein, dann liegt es auch nicht in Ihrer Verantwortung, wenn Arbeit liegen bleibt. Wenn Ihre Vorgesetzten das anders sehen, sollten Sie sich vielleicht besser mal nach anderen Stellen umhören.

Ein weiteres Feld für unberechtigte Schuldgefühle, bzw. ein übertriebenes Verantwortungsgefühl bieten Familienangehörige, Freunde oder andere Menschen, für deren Situation, Verhalten oder gar Gefühle Sie sich möglicherweise verantwortlich fühlen. Eine harmlose Beispielsituation, die Sie leicht auf andere Bereiche übertragen können, könnte lauten: „Ich möchte Tante Trude nicht besuchen, aber sie hat sonst niemanden und ist sicher traurig/verärgert, wenn ich nicht komme.“. Liegt es in Ihrer Macht, ob Tante Trude Freunde und Bekannte hat? Können Sie sicherstellen, dass sie nie traurig oder wütend ist, selbst wenn Sie sie besuchen? Die ehrliche Antwort lautet nein. Andererseits werden Sie recht genau wissen, wie es Ihnen geht, wenn Sie sie besuchen bzw. nicht besuchen. Und dafür – also für Ihr Gefühl – tragen Sie sehr wohl die Verantwortung.

Für alle Interaktionen mit anderen Menschen gilt, dass weder Sie noch der Andere die volle Verantwortung für das Gelingen trägt. Ein hilfreicher Richtwert lautet hier 50/50.

Als Grundregel kann dienen, dass Sie für andere erwachsene Menschen keine Verantwortung tragen. Dies ist schon deshalb so, da es nicht in Ihrer Macht liegt, deren Verhalten oder Gefühle zu kontrollieren. 

Nicht die Verantwortung zu übernehmen für andere heißt also auch eine Kontrollillusion aufzugeben. Übernehmen Sie stattdessen lieber die volle Verantwortung für das, was in Ihrer Macht liegt: Ihr eigenes Verhalten inklusive des Umgangs mit Ihren Gefühlen.

 

Dr. Alexander Noll leitet als Psychotherapeut eine Privatpraxis in Berlin und gibt Seminare und Workshops in ganz Deutschland.

www.dr-alexander-noll.de